Eine Reise beginnt - Auf den Spuren einer gemeinsamen Geschichte
Als ich mich mit meinem Fahrrad und zwanzig Kilo Gepäck endlich in den völlig überfüllten Zug am Würzburger Bahnhof hineingezwängt hatte, wurde mir sofort klar, dass ein riesiges Abenteuer auf mich warten würde. Schließlich hatte ich noch drei Umsteigebahnhöfe vor mir. Am Schalter wurde mir vorher klar gemacht, dass auf tschechischer Seite eine Fahrradmitnahme nicht möglich sei. Nichtsdestotrotz kam ich nach fünf Stunden Fahrt endlich in Bruck am Hammer/Brod nad Tichou an, das im Kreis Tachov liegt. Ich wurde sogleich mit einer malerisch idyllischen Landschaft belohnt. Jetzt hieß es nur noch zum ehemaligen Pfarrhaus hochradeln, das gleich neben der schönen Kirche oberhalb der Ortschaft liegt. Denn dort sollten wir mit Isomatte, Plumpsklo und viel Lagerfeuerromantik unsere kommenden Nächte verbringen.
Deutsch-tschechische Geschichte
Nachdem uns am nächsten Morgen die Sonnenstrahlen wach gekitzelt hatten, nahmen wir ein fürstliches Frühstück im "Konferenzsaal" ein. Anschließend gab uns Matěj eine Einführung über die bewegte deutsch-tschechische Geschichte des Tachauer Kreises und Ondrej stellte in einer Videoschau die Ausstellung "Das verschwundene Sudetenland" vor. Sie zeigte in Fotopaaren die Veränderungen der Landschaft der ehemals deutsch besiedelten Gebiete in den letzten 80 Jahren und war Inspiration für unsere Spurensuche. Danach machten wir uns gleich mit dem Fahrrad in die Wildnis auf, um selbst viele der Ortschaften zu erkunden. Nach etlichen Kilometern teils unwegsamen Geländes blieben wir plötzlich auf einem Feldweg stehen und erfuhren, dass wir uns mitten in Wosant/Bažantov befanden. Bessergesagt in dem was davon noch übrig geblieben war. Nichts außer ein Wegekreuz deutete mehr darauf hin, dass hier im Jahre 1939 einmal ein Dorf mit etwa 60 Häuser stand. Wir mussten uns schon tief ins Dickicht des Waldes vorkämpfen, um verfallene Mauerreste und einen alten Brunnen zu finden, der einst einen künstlich angelegten Dorfweiher mit Wasser versorgte. Nur wenige Bruchstücke konnten sich der Naturgewalt und den militärischen Zielübungen widersetzen. Einen ähnlichen Anblick bot uns die baufällige St. Anna Kirche mit ihrem Friedhof unweit von Wosant und die ehemalige Ortschaft Purschau.
Aus Stauen wird Tatkraft
Von den Bildern des Vortages beeindruckt, renovierten wir im Pfarrhaus, in dem wir wohnten. Wir strichen unter anderem ein Zimmer, entwurzelten im großen Garten störende Bäume und installierten einen Wasserboiler. Das hieß, dass wir ab diesem Zeitpunkt neben fließendem auch warmes Wasser hatten. Am Tage darauf stand die Königsetappe der Tour auf dem Programm. Wir trafen in Tachau Josef Svoboda und den jungen Historiker Robert Dvořák und machten uns gemeinsam auf die lange Reise zur deutsch-tschechischen Grenze. Auf dem Weg dorthin besichtigten wir die Reithalle in Heiligen/Světce und ein Hussitendenkmal, das aus der kommunistischen Zeit stammte. Bei den Versuchen, die verschwundenen Siedlungen Paulushütte/Pavlova Huť und Paulusbrunn/Pavlův Studenec zu finden, hatten wir Spurensucher es dieses Mal allerdings schwer. Denn viele Dörfer waren im Grenzgebiet dem Erdboden gleich gemacht worden, damit sie nicht als Unterschlupf für Flüchtlinge dienen konnten. Letztes Ziel dieser Etappe war die St.-Anna-Gedächtnis-Kirche auf dem Pfaffenbühl bei Mähring. Sie war von vertriebenen Sudetendeutschen aus den Kreisen Tachau und Plana errichtet worden und von ihrem hohen Aussichtsturm konnte man weit hinter die tschechische Grenze sehen.
Heilwasser gegen den Muskelkater
Am Sonntag war Ruhetag angesagt. Toni Otte kam, um mit uns nebenan in der frisch renovierten Kirche Gottesdienst zu feiern. Anschließend fuhren wir - ausnahmsweise per Auto und nicht mit Rad - nach Marienbad. Dort hatten wir die Möglichkeit, uns von den Strapazen der letzten Tage zu erholen. Bei Kaffee, Kuchen und Heilwasser war der Muskelkater schnell vergessen. Am Abend erfuhren wir von Sabine, was unsere schlesischen Spurensucherkollegen in Polen alles entdeckt hatten. Am nächsten ging die Tour zu Herrn Procházka. Er hatte sich einen mittelalterlichen Turm in Elstin/Lštení gekauft und sich zum Ziel gesetzt, ihn wieder in seinen ursprünglichen Zustand zu versetzen. Das war keine leichte Aufgabe, da eine bewegte Geschichte stark an der Substanz des Turmes genagt hatte. So bauten wir mit Hacke, Schaufel und viel Schweiß einen kleinen Schutzwall um den Turmgraben. Beim Mittagessen am offenen Kamin fühlten wir uns in alte Zeiten zurückversetzt. Abends besuchte uns Richard Šulko vom Bund der Deutschen im Egerland und stellte uns seine Organisation vor. Dabei erzählte er uns sowohl von den positiven als auch negativen Erfahrungen, die er und seine Familie als deutsche Böhmen in den letzten Jahren sammelten, und sonst noch so "Allahand aas´n Eghaland".
Auf jüdischen Spuren
Auf unserer letzten Etappe wollten wir den jüdischen Spuren im Tachauer Kreis nachgehen. Hierzu begleitete uns der Historikers Václav Chvátal vom Tachauer Regionalmuseum, ein Experte auf diesem Gebiet. Er führte uns zum leeren Platz in der Judengasse, auf dem bis zur Reichspogromnacht 1938 noch die Synagoge stand. Weiter radelten wir zu den jüdischen Friedhöfen in Tachau, Langendörflas/Dlouhá Újezd und Neu-Zedlisch/Nová Sedlíště, wo uns Chvátal die Inschriften vieler Grabsteine entzifferte. Einige der verwahrlosten Friedhöfe wurden durch lokale Initiativen wieder hergerichtet. Der Abschluss unserer Exkursion war ein Besuch des Regionalmuseums. Als wir dann am Abend wieder in unserem Pfarrhaus angekommen waren, ließen wir die schöne Woche in einer gemütlichen Runde am Lagerfeuer ausklingen und verschwendeten keinen Gedanken daran, dass morgen wieder eine anstrengende Heimreise auf uns warten würde...
(Christoph Dörr)